Balance und Ausgleich – Gedanken zur Crowley-Karte VIII

 

 

Den Anstoß für diesen Artikel gab ein junger Arzt, mit dem ich mich während meines Aufenthalts in der Rehaklinik im Juni dieses Jahres unterhalten habe. Nach mehreren Gelenkoperationen fiel es mir schwer, die über lange Zeit eingenommene Schonhaltung zu unterbinden und ein „normales“ Gangbild einzuüben. Wer macht sich schon bei jedem Schritt klar, welche Muskeln und Sehnen in welcher Art und Weise angespannt und wieder entspannt werden, um unseren Gang zu formen? Verlernt der Körper, vor allem das Gehirn, diese Abläufe, weil sie zum Beispiel schmerzhaft sind und wir sie deshalb vermeiden, so reicht es nicht aus, die rein physischen Reparaturen am Körper vorzunehmen, denn die „Hardware“ ist zwar wieder in guter Qualität vorhanden, aber die „Software“ weiß das nicht und wartet noch darauf, mit dieser neuen Hardware verbunden zu werden. Jede Bewegung des Körpers muss in Theorie und Praxis bewusst nachvollzogen werden, um nach dieser Bestandsaufnahme sinnlos gewordene Abläufe abzulegen und neue zu trainieren. Bei mir hielten sich Versuch und Irrtum die Waage, und meine Ungeduld war auch nicht gerade hilfreich. Die Aufgabe lautete, für jeden einzelnen Schritt ein neues Bewegungsmuster einzustudieren, um dieses mit der Zeit zunehmend automatisch ausführen zu können.

 

Als ich bei einer der Visiten den Verdacht äußerte, das werde wohl nie wieder klappen , weil nun ja „schon“ vier Wochen vergangen seien, ohne dass in meinen Augen nennenswerte Fortschritte erreicht wurden, bat mich dieser junge Arzt zu einem Einzelgespräch am Nachmittag zu sich. Er nahm sich dabei viel Zeit, um die physischen Vorgänge bei einem einzigen Laufschritt bis ins letzte Detail zu erklären. Dann gab es eine Nachhilfestunde über das Zusammenwirken von unseren Bewegungsorganen (Arme, Beine) mit dem steuernden Gehirn. Er appellierte an mich, die Intelligenz dieses Zusammenwirkens weder durch meine Ungeduld noch durch Unkenntnis dieser Zusammenhänge zu torpedieren. „Alles hängt mit allem zusammen“ – einen solchen Satz hatte ich noch nicht so oft von einem Schulmediziner gehört. Lassen wir Unlust oder gar Unfrieden im eigenen Körper zu, reagiert das Gehirn irritiert und kann seine ordnende Funktion nicht mehr effektiv ausüben. Dadurch schleichen sich wieder Fehler im Laufmuster ein, was zunehmend als normal empfunden und nicht mehr korrigiert wird. Dieser Teufelskreis führt dazu, dass Patienten früher oder später mutlos  werden und überzeugt sind, sich damit abfinden zu müssen, dass es für sie eben keine Besserung/Heilung gibt. Solche  Bewertungen enden oft in einer depressiven Haltung des Patienten, manches Mal aber auch in einem rebellischen, verständnislosen Verhaltensmuster, das auf Konfrontation setzt und bis hin zu juristischen Schritten gegen das scheinbar fehlerhafte Verhalten der Ärzte geht. In jedem Fall manövrieren sich Patienten so in eine Opferrolle.

 

Während und nach diesem Gespräch sah ich vor meinem inneren Auge ständig die Trumpfkarte VIII Die Ausgleichung,  aus dem Crowley-Tarotdeck. Ich stellte mir vor, wie viel physische und mentale Kraft es braucht, um die Schwertspitze gemeinsam mit beiden Fußspitzen in der Mitte der unteren Kugel zu positionieren und damit den gesamten Körper in der Balance zu halten. Hier wird das Gewicht des Körpers mit den beiden an der Kopfbedeckung angehängten Waagschalen in einem winzigen Punkt zusammengeführt. Einziges Hilfsmittel sind die beiden Hände der Frau, die den Griff des Schwertes umfassen und so für etwas mehr Stabilität sorgen. Die ganze Figur füllt überdies eine spitz zulaufende Raute aus. Dies soll keineswegs eine versteckte Anspielung auf die gerade stattgefundenen Bundestagswahlen sein, sondern zeugt von der Kraft, Ruhe und Konzentration, die eine solche Haltung erfordert. Eben diese Eigenschaften waren denn auch der Schlüssel, um meinen eigenen Körper in eine neue Balance zu bringen! Deutlicher habe ich mir wohl noch nie vor Augen führen dürfen, wie sehr Tarotkarten – wenn wir es denn zulassen – uns auch im praktischen Alltag unterstützen.

 

Neugierig geworden, suchte ich in meinen Büchern nach weiteren Informationen zu dieser Karte. Mein Umgang mit den Crowley-Karten hat in den letzten Jahren stark abgenommen, weil ich selbstkritisch erkennen muss, dass die Vielfalt der Symbolik in diesem Deck mein Wissen darüber bei weitem übersteigt. Bei Seminaren, aber auch bei Beratungen greife ich gerne und mit Erfolg zum Rider-Waite-Deck, bei dem die Motive für Klienten und SchülerInnen müheloser zu entschlüsseln sind. Warum ließ mich aber die Karte VIII von Crowley einfach nicht los?

 

Ein Zitat des Schweizer Psychoanalytikers C. G. Jung wies mir den Weg:

 

  „Das Leben bedarf zu seiner Vollendung nicht der Vollkommenheit,

sondern der Vollständigkeit.“

 

 

Wenn – wie bei den meisten anderen Tarotdecks – diese Karte Gerechtigkeit genannt wird, stellt sich bei mir ein eher bedrückendes Gefühl ein. Wir werden auf uns selbst zurückgeworfen, wenn in unserem Leben Ereignisse eintreten, die unserem Plan widersprechen. Der Satz „Du wirst ernten, was Du gesät hast“ scheint zwar beim ersten Hinschauen eine klare Konsequenz aufzuzeigen, nämlich unsere eigene Verantwortung für die Wege, die wir einschlagen. Das trifft sicher für viele Alltagssituationen weitgehend zu, auch wenn wir das nicht gerne hören. Wie ist es jedoch mit Entscheidungen, die wir fällen ohne die Hintergründe zu kennen, weil sie uns zum Beispiel verheimlicht werden? Sind wir dann auch für unsere Gutgläubigkeit, unsere Dummheit oder unsere Weltfremdheit in dem Sinne verantwortlich, dass wir die Konsequenzen in voller Härte zu tragen haben? Die Göttin Justitia im Rider-Waite-Deck urteilt sehenden Auges mit dem Schwert in der rechten und der Waage in der linken Hand. Sie scheint nicht rückwärts schauen zu wollen, denn in ihrem Rücken spannt sich ein violettes Tuch zwischen den beiden grauen Säulen, in deren Mitte sie sitzt. Dieses Tuch trennt die irdische Gerechtigkeit, für die sie steht, von der göttlichen Gerechtigkeit, die durch den goldfarbenen Hintergrund symbolisiert wird. Sie erweckt den Eindruck von Objektivität, die durch die grauen Säulen zu ihrer Rechten und Linken angedeutet wird. Die Betonung der Karte liegt ohnehin  durch das Schwert und den sichtbaren rechten Fuß unter ihrem roten Gewand auf der rechten Körperseite, die ebenfalls für Objektivität steht.

 

In der Tat schreibt auch Hajo Banzhaf in seinem Buch „Tarot als Wegbegleiter“, dass beim Rider-Waite-Tarot „das objektive Urteil und die überlegte, ausgewogene und vernünftige Entscheidung“ im Vordergrund stehen. Nun sagt meine Lebenserfahrung, aber auch mein inneres Gefühl, dass es im menschlichen Leben in vielen Fällen kein wirklich objektives Urteil gibt. Wir sind subjektive Wesen mit Emotionen, Gefühlen, Stimmungen, die nicht ausgeklammert werden können. Versuchen wir das, dann kommen sie durch die Hintertür wieder zurück, und wir können sie nicht mehr ohne weiteres als solche erkennen. Sie haben sich verkleidet und verschaffen sich über unser Unbewusstes  Zutritt, wobei sie am liebsten genau dann auftauchen, wenn wir sie am allerwenigsten gebrauchen können. C. G. Jung hat sein halbes Leben lang zu diesen Themen geforscht und in vielen Veröffentlichungen beschrieben, wie sehr gerade das Unbewusste unsere Schritte leitet, ohne dass wir die geringste Ahnung haben, warum wir so und nicht anders handeln. Ich bejahe, dass es wünschenswert und wichtig ist, uns so gut wie möglich zu informieren, wenn Entscheidungen anstehen. Es wird aber trotzdem keine absolute Gewissheit geben, dass wir Situationen objektiv und unvoreingenommen beurteilen, vor allem, wenn wir dabei emotional betroffen sind.

 

Im Gegensatz dazu betont Crowley bei der Ausgleichung das empfindliche, störanfällige Gleichgewicht der Kräfte, welches wir verstehen und herbeiführen sollen. Gemäß dieser Vorgabe lässt sich das oben angeführte Zitat von C. G. Jung so verstehen, dass das Ziel der Justitia aus dem Rider-Waite-Deck die Vollkommenheit ist, während Crowley bei der Ausgleichung den Schwerpunkt auf die Vollständigkeit legt. Einen Ausgleich herbeizuführen bedeutet nicht, dass zum Beispiel ein Verlust, den wir durch einen Einbruch erlitten haben, in genau der gleichen Form, Qualität und Quantität ersetzt wird. Es bedeutet vielmehr, dass wir für den erlittenen Verlust einen Ausgleich erhalten, der sich jedoch unterscheiden kann von dem, was wir verloren haben. Viele Dinge oder Situationen lassen sich nicht ersetzen oder wiederherstellen. Denken wir an ein emotional bedeutsames Geschenk, das uns an enge Familienangehörige erinnert hat.  Das gerechteste Gerichtsverfahren wird diesen Verlust nicht ersetzen können. Es ist jedoch denkbar, dass wir mit einem zugesprochenen Geldbetrag einen Gegenstand erwerben können, der dem geschenkten ähnlich ist. Akzeptieren wir dies als eine Art Wiedergutmachung, dann ist es zu einem Ausgleich gekommen, der dazu beiträgt, uns wieder vollständiger zu fühlen.

 

Unsere Gerichte sind zu einem großen Teil mit Verfahren beschäftigt, wo es um den Ausgleich von materiellen Gütern, von ideellen Vorteilen, von Verpflichtungen, Schulden oder Erbschaften geht. Es wird erbittert gestritten, oft ohne die Möglichkeit, das, was vor Gericht verhandelt wird, überhaupt wiederzubekommen. Letztlich laufen viele dieser Verfahren auf einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen hinaus, die vor Gericht geltend gemacht werden. Nicht umsonst trägt die Ausgleichung eine Maske vor ihren Augen, damit sie sich nicht ablenken lässt von verwirrenden Details oder durch persönliche Vorlieben. Die Gerechtigkeit aus dem Rider-Waite-Tarot hingegen blickt den Betrachter offen an.

 

Einen wichtigen Hinweis gibt uns Justitia auf der Karte Ausgleichung noch mit, wenn wir uns die beiden Waagschalen genauer anschauen. Laut Akrons „Crowley Tarot Führer“ sind sie  an der Spitze ihrer eigenen Krone befestigt, was als Zeichen gewertet wird, dass die Waagschalen nur von ihrem inneren Gleichgewicht gehalten werden. Er zitiert: „Von ihrer Krone – die so empfindlich ist, dass die leiseste Gedankenbewegung sie in Bewegung versetzt – hängen die an den Ketten der Ursache befestigten Waagschalen herab, in denen sich Aleph, das Erste, und Omega, das Letzte, in vollkommenem Gleichgewicht befinden. … Der Angelpunkt, an dem die Waagschalen hängen, ist ein in die Krone eingearbeiteter Mechanismus, dessen Fundament sich auf dem Scheitel der Göttin befindet. Das bedeutet, dass der Ausgleich, den der Mensch mit seiner Umwelt anstrebt, in den Gedanken bzw. in seiner Vorstellungsebene montiert ist, und nur die Verschiebung dieses ‚Montagepunktes‘ eine andere Ausrichtung oder Weltbild zulässt.“

 

Dieses Phänomen zeigt sich bei genauer Betrachtung und entsprechender Sensibilität auch in unserer Welt. Mit anderen Worten: Die Welt wird uns genauso erscheinen, wie sie uns beigebracht wurde und wie wir in der Lage sind, sie uns heute vorzustellen. Unsere Gedanken formen unsere Ziele, die wir genauso erreichen werden, wie wir es in unserem Unterbewusstsein erwarten. Dies kann eine schlechte Nachricht sein, wenn wir festhalten an der Sicht, die wir am Anfang unseres Lebens erlernt haben. Eine gute Nachricht wird daraus, sobald wir verstehen, dass uns damit ein Instrument geschenkt wurde, mit dem wir die eigene Welt kreieren können, nämlich mit unseren Gedanken. Alles, was existiert in unserer Welt, wurde zunächst als Idee geboren. Ein Stuhl wurde erst zum Leben erweckt, als sich irgendein sehr früher Vorfahre gedacht hat, dass sich darauf komfortabler sitzen ließe als auf kantigen Steinen oder dem kahlen Fußboden. Die Idee wurde ausgeformt, griff um sich, und ein anderer Vorfahre setzte sie dann vielleicht begeistert um. Ich nehme mal an, dass es auch dort um Versuch und Irrtum ging – so lange, bis der Prototyp eines Stuhls gebaut und für gut empfunden wurde. Und all das geboren aus dem Umstand, dass der Vorfahre es leid war, unbequem sitzen zu müssen! Nur er (oder sie?) hatte aber auch den Mut, diese Idee zu entwickeln und sich dabei nicht beirren zu lassen von den anderen Altvorderen, die ihm erklärten, dass man immer schon auf Steinen oder auf dem Boden gesessen habe und davon noch niemand gestorben sei. Kommt mir das nicht irgendwie bekannt vor? Ihnen vielleicht auch?

 

Dies versöhnt mich auch mit der Verantwortung, die wir für all das tragen, was wir bei anstehenden Entscheidungen vielleicht nicht beachten, weil es uns niemand gesagt hat oder weil wir gar nicht erst gefragt haben. Diese Suppe werden wir wohl oder übel auslöffeln müssen. Daraus folgert, dass wir verantwortlich sind für unsere Gedanken, auch für unsere Zweifel, die wir so gerne kultivieren. Wenn wir erkennen, dass es unsere Aufgabe ist, unser Leben zu „erschaffen“, dann können wir uns nicht mehr entschuldigen damit, dass andere Menschen uns hintergehen, belügen und betrügen. Ich sage nicht, dass das nie mehr passieren wird. Ich weiß aber aus eigener Erfahrung, dass in einem wesentlich größeren Rahmen, als ich mir das je hätte vorstellen können, Situationen in meinem Leben aufgrund der Änderung meiner Gedanken und vorauseilenden Annahmen entstanden sind. Gedankenhygiene ist mein Lieblingswort dafür. Beginnen wir damit, genau auf unsere Gedanken, Worte und Taten zu achten, und darauf, welches Weltbild darüber zum Vorschein kommt. Fragen wir uns dann, ob das die Welt ist, in der wir leben möchten. Wollen wir weiterhin daran festhalten, dass die meisten Menschen auf der Welt Betrüger und Lügner sind und ein paar davon in unserer nächsten Umgebung? Oder wollen wir den Versuch unternehmen, eine positive Erwartungshaltung einzunehmen und uns angenehm überraschen zu lassen? Ja, Betrüger und Lügner wird es immer geben, wir werden sie jedoch immer weniger in unser Leben ziehen, wenn wir an die anderen Menschen denken, die uns Freude machen und Glück bringen. Damit ändert sich unser Resonanzfeld, das im Kontakt mit anderen Menschen und Ereignissen steht. Es ist wie beim Radio – kein Empfang, keine Sendung! Justieren wir unsere Empfänger und unsere Sender neu, damit unser Leben in Balance kommt, und fangen wir JETZT damit an. Umso eher dürfen wir ungläubig staunen, dass es tatsächlich geklappt hat, umso schneller verstehen wir, dass wir selber unseres Glückes Schmied sind, solange wir keine Forderungen stellen, die uns zwar spektakulär, aber auch durchaus gerechtfertigt erscheinen, letztlich aber nicht zu unserem Besten sind oder sogar Schaden für andere Menschen bedeuten würden.

 

Streben wir nicht nach Vollkommenheit, sondern freunden wir uns mit der Vollständigkeit an. Es ist weniger anstrengend, und nicht nur wir profitieren von dieser Verschiebung, sondern auch unser Umfeld. Gute Beispiele finden mit der Zeit immer Nachahmer – und hierbei kann es gar nicht genug Nachahmer geben! Mir scheint dieser Weg sehr gut geeignet, um den dringend benötigten Ausgleich im Sinne von Crowleys Göttin Justitia in unserer Welt herbeizuführen, um sie gerechter, friedlicher und zukunftsträchtiger zu gestalten.

 

Copyright: Helga Eichner

 

 

Quellennachweis:

Akrons Crowley Tarot Führer, 1. Auflage 2007, AGM AGMüller Urania,

ISBN 978-3-03819-132-2 (Schuber mit Band I und Band II)

Sallie Nichols: Die Psychologie des Tarot, 4. Auflage 1996, Ansata-Verlag, ISBN 3-7157-0202-8

 

 Karten des Crowley Thoth Tarot Copyright

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Kleine Balkenwaage aus Messing und Horn,

erstes Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie

diente dem Abwiegen von Samen.

Foto: Andreas Praefcke

Quelle: Wikipedia