Zwei der Kelche mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania-Verlags
Zwei der Kelche mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania-Verlags

 

Tarot ist lebendige Vielfalt

 

Meine Liaison mit Tarot begann eher als eine Affäre mit der Anmutung einer ‚Amour fou‘, einer zwar leidenschaftlichen, aber auch etwas verrückten Liebe. Zu Beginn meiner dreijährigen Ausbildung zur Paartherapeutin hatte ich Gelegenheit, einem anderen Teilnehmer zuzuschauen bei einer Tarotlegung für ein ebenfalls teilnehmendes Paar. Tarotkarten hatte ich schon seit langer Zeit immer wieder mal gesehen, aber hier begegnete ich zum ersten Mal dem Thoth Tarot des ehrwürdigen Meisters Aleister Crowley. Wie für derartige plötzliche Leidenschaften nicht ungewöhnlich, wollte ich den Gegenstand meiner Sehnsucht sofort besitzen. Also fuhr ich während der nächsten Mittagspause in die Stadt, um mir ein solches Deck zu kaufen. Sämtliche Warnungen, erst mal mit Rider-Waite zu beginnen, schlug ich natürlich sofort in den Wind, ließen sie mein Begehren doch nur noch heftiger werden. Jede freie Minute verbrachte ich in engem Kontakt mit meinem Schatz, sog jedes Detail in mich auf und ernannte ihn, ob er wollte oder nicht, ab jetzt zu meinem ständigen Begleiter.

 

Zehn Jahre später, nachdem diese Liaison bereits Alltag geworden war und sich der Schmelz des Anfangs in ein solides Miteinander gewandelt hatte, begegnete ich in einem Vortrag von Hajo Banzhaf den Karten des Universal Waite-Decks. Sie lockten mich mit zarten, frischen Farben, versprachen Leichtigkeit und Einfachheit, und nisteten sich subtil in meine Gedanken und mein Herz ein. Es begann eine Affäre zu Dritt, bei der mein noch immer geliebtes Crowley-Deck mit der Zeit doch seinen Platz räumen musste. Ich erlebte etwas, was ich bis dahin nicht bemerkt hatte, dass nämlich die Tarotwelt über vielfältigere Impulse verfügt, als in einem noch so bedeutungsvollen Deck vorhanden sind. Wie es kommen musste, wendete ich mich der neuen Liebe zu und vergaß für eine Weile die alte.

 

So sollte es noch einige Male geschehen – immer dann, wenn ich mich wieder faszinieren ließ von neuen Motiven, Farben, Künstlern. Mal mehr und mal weniger intensiv, mal längere und mal kürzere Zeit, aber immer mit der gleichen Neugier auf eine andere Facette dieses Spiels. Ich tauchte ein in das ehrwürdige Tarot de Marseille, ließ mich vom Visconti-Tarot in die Renaissancezeit entführen, freute mich an dem farbenprächtigen Golden Gomera-Tarot. Ein Freund schenkte mir das türkische Kartenset ‚Deste‘, das mich in den Orient begleitete, und in einem sehr lockeren Abendseminar lauschte ich James Wanless‘ Erklärungen zu dem von ihm modern gestalteten Voyager-Tarot. Eine Kollegin legte für mich mit den Karten des fast surrealistisch anmutenden Röhrig-Tarots, und in einer Buchhandlung machte mich das Vice Versa-Tarot mit seiner perspektivisch umgedrehten Sichtweise neugierig. Margarete Petersen schlug mich auf dem Tarotkongress 2009 in den Bann mit ihren wunderschön gestalteten, über einen langen Zeitraum von über zwanzig Jahren entstandenen Tarotkarten, und pünktlich zu einem Geburtstag erreichten mich die Sentenzia-Karten von Eva-Christiane Wetterer und Anja-Dorothee Schacht, die meinen Zwillings-Aszendenten ob der vielen Zitate schier aus dem Häuschen brachten. Die letzte Errungenschaft war das elfenhafte, zart gemalte Shadowscapes Tarot von Stephanie Pui-Mun Law, das mit seinen märchenhaften Szenen meine Fantasie immer wieder neu begeistert und dessen englisch-sprachiges Begleitbuch die Anschaffung eines Wörterbuchs nötig machte.

 

Meine ursprünglich einzige große Liebe hat sich mit den Nebenbuhlern inzwischen in ganz erfreulicher Weise arrangiert und teilt sich einträchtig einen halben Bücherschrank mit ihnen. Ich darf mich deshalb unbelastet daran freuen, dass jedes Deck eine eigene Persönlichkeit darstellt und mir – je nach Stimmung – gerne zu Diensten steht. Ich freue mich an unserem Arrangement und belohne dieses Entgegenkommen mit eigens ausgesuchten, schönen Tüchern und Schatullen, in denen ich meine Freunde und Ratgeber bette, um sie zu gegebener Zeit ans Tageslicht zu holen. So darf die über Jahrhunderte gewachsene Vielfalt zu einem sehr kostbaren Schatz anwachsen.

 

© Helga Eichner